Dienstag, 9. November 2010

Keine Kostenübernahme - Kein OFF-LABEL-USE von Ritalin für Erwachsene


Das Bundessozialgericht hat in seiner Entscheidung vom 30.06.2009, B 1 KR 5/09 R entschieden, dass Erwachsene gesetzlich Krankenversicherte keinen Anspruch auf zulassungsüberschreitende Anwendung eines nur zur Behandlung von Kindern und Jugendlichen zugelassenen Arzneimittels haben.

Der Entscheidung liegt folgender Sachverhalt zu Grunde:

Der Kläger hatte bereits in seiner Kindheit ADHS, welches sich nach Eintritt seines 18. Lebensjahres erneute zeigte. Er bekam auf privatärztliche Verordnung das Arzneimittel Ritalin; Concerta. Ein Antrag auf Kostenübernahme lehnte die Krankenkasse mit der Begründung ab, dass die nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts erforderlichen Voraussetzungen für eine zulassungsüberschreitende Anwendung der Arzneimittel auf Kosten der Krankenkassen nicht erfüllt seien - 
"Der Kläger leide nicht an einer die Lebensqualität nachhaltig beeinträchtigenden Erkrankung; die Krankheit könne auch durch Psychotherapie behandelt werden; zudem reiche die Studienlage für eine Arzneimittelzulassung der Mittel auch für Erwachsene mit ADHS nicht aus."
Aus den Entscheidungsgründe:

Zur Einstandspflicht der gesetzlichen Krankenkasse gelangt man grundsätzlich über § 2 Abs. 1 Satz 1, § 12 Abs. 1 SGB V und § 27 Abs 1 Satz 2 Nr. 1 und 3, § 31 Abs. 1 Ssatz 1 SGB V sowie § 21 Abs. 1 AMG.

"Arzneimittel sind mangels Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit (§ 2 Abs 1 Satz 1, § 12 Abs 1 SGB V) nicht von der Leistungspflicht der GKV nach § 27 Abs 1 Satz 2 Nr 1 und 3, § 31 Abs 1 Satz 1 SGB V umfasst, wenn ihnen die nach § 21 Abs 1 Arzneimittelgesetz erforderliche arzneimittelrechtliche Zulassung fehlt. Eine arzneimittelrechtliche Zulassung in diesem Sinne liegt nur vor, wenn das Arzneimittel die Zulassung gerade für dasjenige Indikationsgebiet besitzt, in dem es im konkreten Fall eingesetzt werden soll."

Ritalin, Concerta und andere methylphenidathaltige Arzneimittel haben Zulassungen nur für das Indikationsgebiet Kinder und Jugendliche. Ein erneuter Antrag der Firma Medice auf Zulassung eines Methylphenidat-Präparates zur Behandlung der ADHS bei Erwachsenen wurde durch die nationale Zulassungsbehörde (BfArM) im Juli 2010 abgelehnt. 

Fraglich wird hier allerdings was insbesondere unter dem Begriff Jugendlicher zu verstehen ist. Ein Höchstalter von 18 Jahren, wie es der BSG hier annimmt, als Stichtagsgrenze zwischen der Bezeichnung als Jugendlicher zum Erwachsenen kann es, wenn man sich mal in anderen Rechtsgebieten umsieht nicht haben. Über diesen Ansatzpunkt hat auch kürzlich das Sozialgericht Braunschweig die gesetzliche Krankenkasse zur Kostentragung verpflichtet. (SG Braunschweig, 15.04.2010 - S KR 90/10) In diesem Urteil heißt es:
"Zwar markiert in Deutschland der 18. Geburtstag den Beginn der Volljährigkeit. Das bedeutet aber nicht zwingend, an diesem Tag vom Jugendlichen zum Erwachsenen zu werden. Eine solche "Stichtagsregelung" kennt unsere Rechtsordnung nicht. So können über 18-Jährige noch nach Jugendstrafrecht und Jugendgerichtsgesetz behandelt werden. Selbst Kindergeld kann sogar noch im 25. Lebensjahr bezogen werden."

Ein durch Gesetzesrecht und untergesetzliche Regelungen gedeckter Off-Label-Use liegt ebenfalls nicht vor. Die für die gesetzliche Krankenkasse geltende Arzneimittelrichtlinien "Verordnungsfähigkeit von zugelassenen Arzneimitteln in nicht zugelassenen Anwendungsgebieten" enthalten bis dato keine Angabe für Methylphenidat-Präparate. (Der Auftrag an die Experten des Gemeinsamen Bundesausschusses wurde zurückgegeben, weil ein Antrag auf Neuzulassung durch Pharmaunternehmen gestellt wurden - welche zurückgewiesen wurde. Ein neuer Auftrag an die Expertengruppe wurde bislang nicht wieder beschlossen.)

Das BSG lehnt aber auch sonst einen Off-Label-Use für methylphenidathaltige Arzneimittel ab. Zur Begründung führt es aus:
"Ein Off-Label-Use kommt danach nur in Betracht, wenn es 1. um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung geht, wenn 2. keine andere Therapie verfügbar ist und wenn 3. aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann. Abzustellen ist dabei auf die im jeweiligen Zeitpunkt der Behandlung vorliegenden Erkenntnisse. Dabei bedarf es eines positiven Wirksamkeitsnachweises nach den oben genannten und nachfolgend näher aufzuzeigenden Maßstäben."
Bei der Prüfung dieser Kriterien beschränkt sich der BSG auf 3. (positiver Verdacht auf Behandlungserfolg). Ein erwarten Lassen, dass methylphenidathaltige Arzneimittel in der konkreten Indikation zugelassen wird bestand nicht (man kann davon ausgehen, dass auch ein Jahr nach dieser Entscheidung keine andere ergangen wäre, da der erneute Antrag eines Pharmaherstellers im Juni 2010 abgelehnt wurde).

Das BSG führt weiter aus, dass auch keine erleichterten Voraussetzungen für einen Off-Label-Use, die über die bisherige BSG-Rechtsprechung hinausgehen, vorliegen. Der vorliegende Fall gab keinen Anlass, 
"die Anforderungen an einen zulassungsüberschreitenden Einsatz von Kinderarzneimitteln für Erwachsene zu modifizieren." 
Ein solche Anpassung käme nur in Betracht, wenn 
"der Versicherte in der Zeit unmitellbar vor Vollendung des 18. Lebensjahres mit einem nur für Kinder und Jugendliche zugelassenen Arzneimittel indikationsbezogen versorgt wurde und er nach Erreichen des 18. Lebensjahres an derselben Krankheit leidet, die auch nach einem solchen "Stichtag" auf andere Weise nicht angemessen behandelt werden kann." Weiter führt der BSG aus: "Sollte das Risiko-Nutzen-Potenzial beim Fortgebrauch eines für Kinder zugelassenen und im Kindes- und Jugendlichenalter schon unmittelbar vor Erreichen des 18. Lebensjahrs angewandten Arzneimittels auch bei Überschreiten der Schwelle zur Volljährigkeit im Wesentlichen gleich geblieben sein, bedürfte es jedenfalls einer besonderen Rechtfertigung, die nahtlose Weiterversorgung des Betroffenen mit dem begehrten Mittel abzulehnen."

Nach dieser Einschätzung des BSG hängt der besondere Off-Label-Use von  methylphenidathaltige Arzneimitteln demnach von dem Alter in Verbindung mit der vorher - nachher Anwendung zusammen. Im vorliegenden Fall wird als zusätzliche Begründung das besondere Suchtpotential dieser Arzneimittel angeführt, welches bei jungen Erwachsenen höher eingeschätzt wird als bei 
"einem ggf nur vorübergehenden bzw schon gefestigt kontrollierten Einsatz der Mittel im Kindesalter, der dann nach dem 18. Lebensjahr fortgesetzt werden soll."
Über diese Betrachtungsweise lässt sich sicherlich streiten. Eine Quellenangabe zu diesem Gedankengang weist das Urteil jedenfalls nicht auf. Es bleibt abzuwarten, wie sich das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte in naher Zukunft entscheiden wird. 

Bis dahin brauchen die gesetzlichen Krankenkassen die Kosten für methylphenidathaltige Arzneimittel, welche erst nach dem 18. Lebensjahr erstmals verschrieben werden sollen nicht zu tragen. Für einen "beyond-Label-Use" sollte die gesetzliche Krankenkasse allerdings in der Regel die Kosten tragen.
 
Kontaktaufnahme mit der Autorin: sk@ihr-rechtsanwalt.eu

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen